Vorlesung Anorganische Strukturchemie
2.2. Elementstrukturen der Nichtmetalle
2.2.6. Bor
Bor sollte als Nichtmetall der III. Hauptgruppe nach der 8-N-Regel fünf kovalente Bindungen ausbilden,
was jedoch ohne Überschreitung der Oktettregel nicht möglich ist. Daher beobachtet man
bei Bor und auch bei vielen Borverbindungen, z.B. den B-H-Verbindungen (Borane) oder B-reichen Boriden
Mehrzentrenbindungen. Als 'Abzählregel' können die von den
Boranen bekannten empirischen Wade(Mingos)-Regeln angewendet werden.
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Abb. 2.2.6.1. β-rhomboedrisches Bor |
Diese gelten auch für die verschiedenen Modifikationen des elementaren Bors.
MO-Berechnungen zeigen, dass 13 Elektronenpaare (d.h. 26 Elektronen) für die Stabilisierung
eines Ikosaeders (N=12; Closo-Cluster, mit N+1 Elektronenpaaren nach Wade) erforderlich sind.
Dabei ist ein sp-Hybrid-Atomorbital in das Clusterzentrum hinein ausgerichtet, während
die Hülle durch σ-Bindungen der verbleibenden beiden p-Orbitalen des Bors gebildet wird.
Für komplexere und stark verknüpfte Baugruppen gibt es in Erweiterung der
Wade-Regeln die sogenannten Jemmis- oder mno-Regeln. Auch hierbei handelt es sich um empirische
Regeln, die Wade-Regeln sind ein Spezialfall der mno-Regel.
Von elementarem Bor gibt es drei gesicherte und zahlreiche weniger gesicherte Modifikationen. Deren
Gemeinsamkeiten sind:
- Die Strukturen enthalten leere (!) B12-Ikosaeder.
- Nach den Wade'schen Regeln hat ein geschlossenes Ikosaeder N+1, d.h. insgesamt 13
Molekülorbitale.
- Die Koordinationszahlen der B-Atome liegen zwischen 4 und 9.
- Es kommen sowohl offene als auch geschlossene 2-Elektronen-3-Zentrenbindungen vor.
Die Stabilitätsbereiche der drei gesicherten (C/N/X-freien) reinen Elementmodifikationen
von Bor sind im noch recht neuen (2013) Phasendiagramm in Abbildung 2.2.6.2 gezeigt.
Abb. 2.2.6.2. p-T-Diagramm von Bor
‣SVG
- Die bei Normalbedingungen stabile Form von Bor, α-rhomboedrisches Bor (Abb. 2.2.6.3.), besteht aus einer
kubisch dichtesten Kugelpackung
kovalent verknüpfter Ikosaeder. Die Wade'schen Regeln lassen sich hier wie folgt
anwenden: In der Schicht (111) ist jedes Ikosaeder mit sechs weiteren
Nachbarikosaedern über Dreizentrenbindungen verknüpft. Zwischen den Schichten
bestehen nochmals sechs weitere 'normale' B-B-Bindungen zur nächsten Schicht.
Die Elektronenbilanz nach Wade ist damit:
- In der primitiven Aufstellung der rhomboedrischen Elementarzelle befindet sich
genau ein Ikosaeder in der Zelle, d.h. es stehen 36 Elektronen (12 * 3) zur
Verfügung.
- Für dieses sind nach Wade N+1, d.h. 13 Elektonenpaare bzw.
26 Elektronen erforderlich, so dass 10 (36-26) Elektronen für 'Exo' Bonds zur
Verfügung stehen.
- Jedes Ikosaeder ist an sechs der zwölf Ecken über
normale 2-Zentrenbindungen verknüpft. Hierfür werden damit 12/2, d.h. 6
Elektronen benötigt.
- Die restlichen verbleibenden vier (10-6) Elektronen bilden die
Verknüpfung der Ikosaeder an sechs Ecken über die 3-Zentrenbindungen.
- Jede 3-Zentrenbindung gehört zu drei Ikosaedern, d.h. je 2/3
der Elektronen pro beteiligtem B-Atom, hierfür reichen also die 2/3 * 6 = 4
Elektronen! (q.e.d.)
Abb. 2.2.6.3. Struktur von
α-rhomboedrischem Bor
‣VRML
Entsprechende Rechnungen gelten für fast alle Boride, sie sind aber z.T. sehr kompliziert.
Ein weiteres einfaches Beispiel ist die Struktur von CaB6, das ebenfalls
elektronenpräzise nach Wade ist.
Von dieser Struktur leiten sich auch die Borcarbide zwischen B4C und B10C
(Idealformel: B12C3 = [B11C][CBC]) ab,
in der unter Verlust der 2e2c-Bindung und bei starker Aufweitung der hexagonalen
Basis lineare [CBC]-Baugruppen in die Oktaederlücken der f.c.c.-Ikosaeder-Packung
eingebaut werden. Auch diese Verbindung ist im Idealfall elektronenpräzise,
die [B11C]-Ikosaeder sind untereinander (6 *) und über lineare [CB+C]-Einheiten
(6 *) mit tetraedrisch koordiniertem [4]C und linearem [2]B+,
d.h. ausschließlich über gewöhnliche 2e2c-Bindungen, verknüpft.
Die Ladung dieser Ikosaeder beträgt -1 und wird durch das linear koordinierte B+
ausgeglichen.
- β-rhomboedrisches Bor (Abb. 2.2.6.4.) ist laut neueren Phasenuntersuchungen die Hochtemperatur-Form von Bor.
Sie enthält Ikosaeder,
leere gekappte Tetraeder und 28er-Baugruppen aus drei ineinander geschobenen Ikosaedern.
Mit jedem Ikosaeder sind 20 gekappte Tetraeder über
Flächen verknüpft. Die Umhüllende dieser Anordnung entspricht dem
Fußball (vgl. Fullerene), allerdings sind alle Fünfecke einspringende
Flächen (wie Regenschirme nach innen). Beim Aufbau der Gesamtstruktur ist zu berücksichtigen, dass jedes
dieser einspringenden Ecken wieder zu einem weiteren Ikosaeder bzw.
zu einer Ikosaederkappe der B28-Baugruppe (s.u.) gehört.
Diese Struktur kann vereinfacht auch vom rhomboedrisch verzerrten MgCu2-Typ abgeleitet werden,
in dem zwei kristallographisch unterschiedliche B12-Ikosaeder
im Verhältnis 1:3 ([B'12][B''12]KN3) die Cu-Positionen einnehmen
und auf den Mg-Plätzen B28-Baugruppen aus drei ineinandergeschobenen
Ikosaedern positioniert werden. Die [B'12]-Ikosaeder bilden die Zentren der
von den Fullerenen bekannten B60B12-Baugruppen, deren einspringende
Fünfecke zur Hälfe von den [B''12]-Ikosaedern, zur Hälfte von den Kappen
der [B28]-Ikosaederpackete gebildet werden.
Gemeinsam mit dem B(1)-Atom, das je zwei der B28-Packete verknüpft,
ergibt sich zunächst die Zusammensetzung
B(1)[B28]2[B'12][B''12]KN3 =
B105.
Von dieser B-Modifikation ist bekannt, dass die (hier extrem komplexen) Elektronenzählregeln nur gelten,
wenn - insbesondere innerhalb der B28-Baugruppen - Bor-Fehlstellen auftreten.
Es gibt eine ganze Reihe 'gestopfter' Alkalimetall-Gallide und -Indide, in denen diese Defekte
durch Zn- bzw. Cd-Substitution ausgeglichen werden. Hier beobachtet man dann
eine (Pseudo)-Bandlücke und die Elektronenzahl entspricht den Wade- bzw. Jemmis-Elektronenzählregeln.
Abb. 2.2.6.4. Ausschnitte aus der Struktur von
β-rhomboedrischem Bor
- Die noch relativ neue (2008) B28- oder γ-Modifikation von Bor
wurde unter Druck hergestellt. Ihre orthorhombische Struktur (Raumgruppe Pnnm) enthält
Ikosaeder, die aus vier der fünf kristallographisch unterschiedlichen Bor-Atome aufgebaut sind.
Diese Ikosaeder sind nach dem Motiv einer kubisch-innenzentrierten Packung angeordnet
und über 'exo'-Bindungen verknüpft. Zusätzlich enthält die Struktur eine B2-Hantel
(in Abb. 2.2.6.5. mit blauen Kugeln gekennzeichnet),
die innerhalb der quadratischen Schichten der b.c.c. Anordnung alle Maschen zentriert
(B28 = 2 * [B12+B2]). Diese B-Atome sind lediglich zweibindig (!).
Abb. 2.2.6.5. Struktur von
B28 (γ-Bor).
‣VRML
- Das sogenannte α-tetragonale 'Bor' enthält ebenfalls B12-Ikosaeder, dazwischen fehlgeordnetes B.
Vermutlich ist diese Form nur stabil, wenn kleine Mengen C oder N enthalten sind.
Sie kann nur durch epitaktisches Wachstum auf B48B2C2 dargestellt werden.
Abb. 2.2.6.6. Struktur von
α-tetragonalem Bor
‣VRML
- β-tetragonales 'Bor' hat eine wirklich komplizierte Struktur, und ist wohl auch nicht frei von Fremdatomen.
... weiter geht es mit kovalenten Verbindungen der Nichtmetalle untereinander ...