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Vorlesung Anorganische Strukturchemie

2.2. Elementstrukturen der Nichtmetalle

2.2.3. Elemente der VI. Hauptgruppe (Chalkogene)


Die Bindigkeit der Atome in den Elementen der 6. Hauptgruppe ist nach der 8-N-Regel zwei. Die Strukturchemie wird entsprechend von Ketten oder Ringen, d.h. 0-dimensionalen bzw. 1-dimensional unendlichen Bauverbänden geprägt. Das erste Element der Gruppe, der Sauerstoff, geht auch Mehrfachbindungen ein und bildet entsprechend hantelförmige Moleküle mit einer formalen Doppelbindung (Diradikal, s. MO-Schemata aus der Vorlesung Chemie der Nichtmetalle, darin Kap. 5.1., Abb. 5.1.3 sowie VRMLs der einzelnen MOs).

Sauerstoff

Vom Sauerstoff gibt es zwei allotrope Modifikationen:
flüssig < 54 K γ < 43.8 K β < 24 K α
Dichte . . 1.32 . 1.334 . 1.495
Struktur cP, Cr3Si rhomboedrisch (f.c.c.-analoge Stapelfolge) monoklin (C2/m)
O2 nur partiell fehlgeordnet, β-F2-Typ O2 entlang [111] nach |:ABC:| ausgerichtet |:AD:|-Stapelung über Kanten (vgl. α-U-Typ)
Elementarzelle
VRML Zelle Zelle Zelle
Abb. 2.2.3.1. Polymorphie von elementarem Sauerstoff

Schwefel

Vom Schwefel gibt es sehr viele verschiedene Modifikationen, er ist dasjenige Element mit den meisten allotropen (polymorphen) Formen. Die einzelnen Modifikationen unterscheiden sich in: Die strukturell charakterisierten Schwefelmodifikationen sind im Folgenden aufgezählt:

Die Abstände und Winkel liegen in allen Formen im Bereich dS-S von ca. 206 pm (+/- 10 pm), die Winkel am Schwefel zwischen 101 und 110o, was der Voraussage durch die VSEPR-Regeln entspricht. Der Dieder-Winkel (bei vier verknüpften Atomen ABCD Winkel zwischen den Ebenen durch ABC und BCD) liegt im Bereich zwischen 74 und 100 o. Damit ergeben sich Freiheiten in der Gesamtstruktur praktisch erst ab dem fünften Atom. Man unterscheidet dann in cisoide und transoide Verknüpfung (Abb. 2.2.3.2).

Abb. 2.2.3.2. cisoide- und transoide-Verknüpfung 2-bindiger Atome

Die beiden Verknüpfungsarten treten auf bei:

In den folgenden Abbildungen der diversen Sn-Ringe sind S-Atome mit transoider-Konformation in rot, die mit cisoider-Konformation gelb gekennzeichnet.

α-S8 (orthorhombisch) β-S8 (monoklin)
Einzelmoleküle, eine Rolle, Elementarzelle mit markierten Rollen in unterschiedliche Richtungen, (s.a. ST-DB) Elementarzelle (!! die S8-Ringe sind z.T. fehlgeordnet!)
S6-Ringe S7-Ringe (γ-Form) S10-Ringe S11-Ringe
VRML VRML VRML VRML
S12-Ringe S18-Ringe S20-Ringe Sx-Kette
VRML VRML S20-Ringe einzelne Kette

Abb. 2.2.3.3. Strukturen verschiedener Schwefel-Modifikationen

Alle festen thermodynamisch stabilen Formen von Schwefel enthalten S8-Ringe. Die Winkel S-S-S betragen ca. 108o, die S-S-Abstände ca. 204 pm. Abhängig von Druck und Temperatur ist im Feststoff die α- oder die β-S8-Modifikation stabil, wie das Phasendiagramm in Abbildung 2.2.3.4. zeigt.

Abb. 2.2.3.4. p-T-Diagramm von Schwefel SVG Abb. 2.2.3.5. Natürlicher kristalliner α-Schwefel (links) und aus p-Xylol kristallisierter β-Schwefel (15.11.2019, Dank an C. Serr-Gehring/Versuch und H. Schuster/Foto).
Kristallisation von monoklinem Schwefel (18MB|MP4|H264)

Beim Aufheizen von elementarem α-Schwefel bei Normaldruck kommt es zu einer Reihe von Phasenumwandlungen:

Die Phasenumwandlungen beim Erwärmen sieht man auch in dem folgenden Video aus der Grundvorlesung:
Schmelzen und Abschrecken von Schwefel (26MB|MP4|H264)

Zur Herstellung definierter Ringe Sn sind jeweils spezielle Verfahren nötig, die Abtrennung einzelner Spezies kann auch durch Chromatographie erfolgen.

Kleinere Ringe kommen in S6, das die wohlbekannte Sesselform, d.h. reine cisoide-Konformation, aufweist, und in S7 (mit zwei verschiedenen Modifikationen) vor.

Größere Ringe Sn sind für n = 10, 11, 12, 13, 18 und 20 bekannt, wobei mit steigender Ringgröße immer mehr transoide-Verknüpfung (in den Abb. 2.2.3.3. gelb markiert) beobachtet wird.

In den unendlichen Ketten Sx, die als 103-Schraubenketten kristallisiert werden konnten, kommt nur noch die transoide-Verknüpfung vor.

Abb. 2.2.3.6. Selen Abb. 2.2.3.7. Glasiges Selen Abb. 2.2.3.8. Tellur

Selen, Tellur, Polonium

Übersicht über die Strukturen von Se, Te und Po:

Sex-Kette Se-Po Po
Se-Schraubenketten (s.a. ST-DB) Strukturverwandtschaft Se-Po α-Po-Strukturtyp
Abb. 2.2.3.9. Kristallstrukturen von Selen, Tellur und Polonium

Bemerkenswert ist, dass sich die Kristallstruktur von Selen und Tellur aus der Polonium-Struktur entwickeln läßt, indem die Atome von der regelmäßigen Oktaeder-Koordination in eine 2+4 Koordination verschoben werden (Peierls-Verzerrung, Abb. 2.2.3.9 Mitte).
In der Abbildung 2.2.3.11. sind die Druckmodifikationen der Elemente Selen und Tellur (sowie der Pentele, s. folgendes Kapitel 2.2.4.) grafisch zusammengefasst.

Abb. 2.2.3.10. Druckmodifikationen von Se und Te im Vergleich mit den HP-Formen der Pentele SVG

Bei höheren Drücken erfolgt über Zwischenstufen wie Se-II, Te-II und Te-III, bei denen sich bereits die Erhöhung der Koordinationszahl auf sechs andeutet (s. die monokline Struktur von Te-II in Abb. 2.2.3.11), die Umwandlung zunächst in die leicht verzerrte Polonium-Struktur (kubisch primitiv, β-Po mit leicht gestauchtem Würfel) mit einer echten Sechsfach-Koordination (Druckhomologen-Regel). Bei weiter erhöhten Drücken von ca. 100 GPa bei Selen und ca. 20 GPa bei Tellur gehen die beiden Elemente schliesslich in den metallischen Wolfram-Typ (b.c.c.), mit einer Koordinationszahl von 8+6, über.

Abb. 2.2.3.11. Die monokline Kristallstruktur von Te-II. Dicke, helle Bindungen sind etwas kleiner als 300 pm, die dünneren Stäbe entsprechen Te-Te-Abständen zwischen 300 und 330 pm. VRML

Zusammenfassung

Die Tabelle 2.2.3.1. gibt wieder eine abschließende Übersicht über die Bindungverhältnisse (Abstände, Winkel usw.) in den wichtigsten Modifikationen der elementaren Chalkogene:

d1X-X d2X-X WinkelXXX Diederwinkel Anordnung Bandlücke
intram. [pm] interm. [pm] [o] [o] [eV]
α-S8 205 380 98 cisoid
S12 cisoid/transoid
S transoid
Se (grau) 237 344 103.1 transoid 2.2
Te 283 349 101.5 transoid 0.33
α-Po 336 336 90 90 - 0

Tab. 2.2.3.1. Atomabstände und -winkel in den Chalkogenen

Die Abstände X-X im Molekül (intramolekular) und dazwischen (intermolekular) nähern sich nach unten im Periodensystem immer mehr an. Zugleich nimmt der metallische Charakter zu, die Bandlücke nimmt ab. Die Grenze kovalenter Bindungskonzepts ist beim Polonium erreicht. Innerhalb einer Gruppe gilt die Druckhomologenregel nach der häufig die Hochdruckmodifikationen eines Elementes die Struktur des schwereren Homologen einnehmen.

... und weiter mit den Pnicogenen (Pentelen) (Kap. 2.2.4.) ...

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