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Vorlesung Strukturchemie der Oxide

4. Nichtstöchiometrische binäre Oxide


Verbindungen, die im Übergangsbereich zwischen stöchiometrischen und nichtstöchiometrischen Bereich liegen, sind die bereits seit mehr als 50 Jahren bekannten sogenannte reduzierte W- und Mo-Oxide, in denen einige der M6+-Ionen zu M5+ reduziert ist. Die Darstellung dieser Verbindungen erfolgt durch Reduktion von WO3 bzw. MoO3 entweder durch die Umsetzung der Trioxide MO3 mit metallischem M oder durch schwaches Glühen von MO3 im Wasserstoff-Strom. Umsetzungen dieser Art liefern ein Vielzahl intensiv gefärbter Phasen. Thermodynamische Untersuchungen zeigen, dass zwischen MO3 und M2O3 ( = MO2.5) Phasen mit Phasenbreite existieren. Für Wolfram sind sie in der folgenden Tabelle 4.1. zusammengestellt:
Verbindung x Farbe
α-WOx 3.00 - 2.98 zitronengelb
β-WOx 2.90 - 2.83 blauviolett
γ-WOx 2.72 - 2.66 rotviolett
δ-WOx 2.00 (Rutil) braun
Tab. 4.1. Wolfram-Oxide

Obwohl diese Verbindungen zunächst nach echter Nichtstöchiometrie aussehen, konnte Magneli ca. 1950 (daher der Name Magneli-Phasen) die Strukturen stöchiometrisch zusammengesetzte Verbindungen bestimmen:
Verbindung x Name
W40O119 WO2.975 α-WOx
W50O148 WO2.96 Grenze zu α
W20O58 WO2.90 β-WOx
W18O49 WO2.72 γ-WOx
Tab. 4.2. Stöchiometrische Wolfram-Oxide

Ein sehr ähnliches Bild ergibt sich für die Mo-Oxide, wie die folgende Tabelle 4.3. zeigt.
Phasen x Struktur
α-MoOx 3.00 - 2.95 Schichtstruktur
β-MoOx 2.75 - 2.65
γ-MoOx 2.00 - 1.97 Rutil
Tab. 4.3. Stöchiometrische Molybdän-Oxide

Hier sind die Strukturen stöchiometrischer Phasen zwischen der α- und der β-Phase bekannt (Tab. 4.4.).
Verbindung x
Mo9O26 MoO2.89
Mo8O23 MoO2.875
Mo17O47 MoO2.76
Tab. 4.4. Stöchiometrische Molybdän-Oxide zwischen der α- und der β-Phase

Dazu gibt es etliche gemischte Mo-W-Oxide mit komplizierten Zusammensetzungen.
Alle Zusammensetzungen und Strukturen lassen sich als Scherstrukturen von ReO3 erklären. In allen Oxiden liegt M in oktaedrischer Koordination vor. Die Zahl der gemeinsamen Kanten zwischen den MO6-Oktaedern kann einen weiten Bereich der Zusammensetzung erklären und reicht von TiO (( NaCl-Typ, acht gemeinsame Kanten) über TiO2 (Anatas, vier gemeinsame Kanten) und V2O5 (zwei gemeinsame Kanten) schließlich bis zum ReO3 (keine gemeinsamen Kanten). Die W-, Mo- und Nb-Oxide liegen zwischen den beiden letzten Zusammensetzungen M2O5 und MO3. Entsprechend lassen sich ausgehend von ReO3 durch Einführung sogenannter kristallographischer Scherungen entlang bestimmter Richtungen und in bestimmnten Abständen (diese führt zu mehr Kantenverknüpfung = abnehmendem O-Gehalt = mehr M5+) die Strukturen und Zusammensetzung dieser Phasen erklären:

Die Tabelle 4.5. zeigt zunächst Beispiele für Scherungen in nur eine Richtung hk0.

Scherung Richtung (hk0) Formel Beispiel
A (000) MO3 ReO3
B (110) MO3 keine
C (120) MnO3n-1
Mo8O23
D (130) MnO3n-2 W20O58, W50O148
E (010) MmO3m-1
Tab. 4.5. Scherstrukturen von ReO3 mit Scherungen in eine Richtung hk0

Im Einzelnen zu Tabelle 4.5.:

Eine ganze Serie weiterer Oxide läßt sich durch zwei solcher Scherung, die senkrecht zueinander verlaufen, erklären (sog. Block- oder besser Säulenstrukturen). Der einfachste Fall ist jeweils eine Scherung in (1 0 0) und eine in (0 1 0), so dass Säulen aus ReO3-Einheiten bestehen bleiben. An den Blockgrenzen findet sich auch Kantenverknüpfung von Okatedern.
In die allgemeine Formel

MmnO3mn-(m+n)
geht die Zahl der eckverknüpften Oktaeder in (1 0 0) (n) und (0 1 0) (m) ein, d.h. die sogenannte Blockgröße. Die einzelnen Beispiele sind in Tabelle 4.6. zusammengestellt.

x in MOx Blockgrösse Stöchiometrie Beispiele
2.33 3 x 3 M9O21 = M3O7 TiNb2O7, TiTa2O7
2.417 3 x 4 M12O36-7 = M12O29 Nb12O29, Ti2Nb10O19
2.5 4 x 4 M16O3*16-8 = M16O40 = M2O5 M-Nb2O5
2.5 ∞ x 2 M2 ∞O6 ∞ -(∞ + 2) = M2O5 R-Nb2O5, V2O5
2.67 ∞ x 3 M 3 ∞ O 9 ∞ - (∞ + 3) = M3O8 Nb3O7F
3 ∞ x ∞ M∞ ∞O3 ∞ ∞-(∞+2) = MO3 ReO3
Tab. 4.6. Scherstrukturen von ReO3 mit Scherungen in die beiden Richtungen (100) und (010)

Die folgende tabellarische Übersicht (Tab. 4.7.) zeigt, dass diese Phasen zwischen NaCl (alle Kanten gemeinsam, Strukturtyp) und ReO3 (keine gemeinsame Kanten) liegt.

x n m allgemeine Formel Beispiele Abbildung
1 1 1 MO TiO (NaCl-Typ)
2 1 MO2 TiO2 (Anatas)
2.33 3 3 M9O21 = M3O7 TiNb2O7
2.417 3 4 M12O29 Nb12O29
2.5 4 4 M2O5 M-Nb2O5
2.5 2 M2O5 R-Nb2O5
2.67 3 M3O8 Nb3O7F
3 MO3 ReO3
Tab. 4.7. Scherstrukturen von ReO3 mit Scherungen in die beiden Richtungen (100) und (010)

Diese Formel geht in die für die eindimensionale Scherung der gleichen Art über, wenn ein Index unendlich gesetzt wird. Wenn die Blöcke in beide Richtungen ∞-groß sind, muß letztlich wieder der ReO3-Typ resultieren.

Neben diesen einfachen Blockstrukturen gibt es noch eine riesige Zahl weiterer Scherstrukturen, bei denen die Blöcke in komplizierterer Weise verknüpft sind und andere allgemeine Formeln resultieren. Weitere Variationen entstehen durch Einbau von Elementen in die Tetraederlücken, die dann bevorzugt die Blockecken besetzen (z.B. PNb9O25).

Echte Nichtstöchiometrie kommt bei Verbindungen dieser Art zustande, wenn nicht-periodische Scherungen vorliegen.

Die Strukturaufklärung solcher Phasen ist röntgenographisch äußerst kompliziert, da der überwiegende Teil der Struktur ReO3 entspricht und für die eigentliche Strukturbestimmung die sehr schwachen Überstrukturreflexe ausgewertet werden müssen. Heute werden die Strukturen solcher Phasen mit großem Erfolg mit Hilfe von hochauflösender Elektronenmikroskopie aufgeklärt.

Im letzten Kapitel folgt nach den vielen komplizierten Stöchiometrien eine Betrachtung der Strukturchemie ternärer Oxide mit einer gleichbleibenden Zusammensetzung.

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