Vorlesung: Strukturchemie der Oxide
1. Einleitung und Übersicht
Motivation
Es lassen sich sehr verschiedene Gründe
zur Motivation einer Vorlesung Strukturchemie der Oxide
nennen. Hierzu gehören:
- Häufigkeit von Sauerstoff
Sauerstoff ist das auf der Erdoberfläche am häufigsten
vorkommende Element. Er macht 23 Massenprozent der
Atmosphäre, 85 Prozent der Hydrosphäre (H2O) und 46
Prozent der Lithosphäre aus.
In der Lithosphäre liegt er in Form von bei Normalbedingungen
festen (Strukturchemie!) Verbindungen vor.
- Verbindungsbildung mit Sauerstoff
Fast alle Elemente (außer die leichten Edelgase) bilden binäre Oxide,
die meisten Elemente sogar mehrere verschiedene. Entsprechend grösser ist
die Vielfalt bei ternären oder quaternären Verbindungen.
- Physikalische Eigenschaften
Die physikalischen Eigenschaften der Oxide reichen von schwer kondensierbaren Gasen
(z.B. CO) bis hin zu hitzebeständigsten Werkstoffen (z.B. ZrO2).
Die elektrischen Eigenschaften variieren von Isolatoren (z.B. MgO) über Halbleiter
(z.B. NiO) bis hin zu metallischen Leitern (z.B. ReO3).
- Technische Bedeutung
Feste Oxide sind technisch als Grundstoffe (z.B. Pigmente, Keramiken,
Gläser), in der chemischen Industrie (z.B. Katalysatoren), der
Werkstofftechnik (Hartstoffe) und der Elektronik (Bauteile, Magnetika,
Ferroelektrika, HT-Supraleiter) von großem Interesse.
- Vielfältige Strukturchemie
Die Strukturchemie der Oxide ist geprägt durch unterschiedliche
Bindungscharaktere, die von ionischem über kovalenten bis hin zu
metallischem Charakter reichen.
Neben kristallinen Verbindungen gibt es Gläser und Keramiken
(nicht-kristalline Feststoffe).
Es finden sich Beispiele für stöchiometrische und nichtstöchiometrische
Verbindungen. Die Koordinationszahlen am Sauerstoff überstreichen einen
weiten Bereich von 1 (z.B. in CO) bis 8 (z.B. in Li2O)
Die genannten Punkte weisen die Oxide als (nicht nur strukturchemisch) interessante und
vielfältige Substanzklasse aus. Ziel der Vorlesung ist daher neben der
Wiederholung und Erweiterung der Stoffkenntnis einer der wichtigsten
Verbindungsklassen die Vertiefung der Prinzipien und Denkweisen der
Anorganischen Festkörperchemie am Beispiel einer Gruppe von Verbindungen.
Gliederung
Aus Zeitgründen muß auf die Behandlung vieler ternärer und höherer Oxide
(z.B. der Silicate) verzichtet werden.
Die Behandlung der binären Oxide (Kap. 2 und 3) gliedert sich wie folgt:
H |
| He |
Li |
Be |
| B |
C |
N |
O |
F |
Ne |
Na |
Mg |
Al |
Si |
P |
S |
Cl |
Ar |
K |
Ca |
Sc |
Ti |
V |
Cr |
Mn |
Fe |
Co |
Ni |
Cu |
Zn |
Ga |
Ge |
As |
Se |
Br |
Kr |
Rb |
Sr |
Y |
Zr |
Nb |
Mo |
Tc |
Ru |
Rh |
Pd |
Ag |
Cd |
In |
Sn |
Sb |
Te |
I |
Xe |
Cs |
Ba |
La |
Hf |
Ta |
W |
Re |
Os |
Ir |
Pt |
Au |
Hg |
Tl |
Pb |
Bi |
Po |
At |
Rn |
Die rot unterlegten Elemente bilden überwiegend kovalente Oxide,
die in Kap. 2 - nach Hauptgruppen geordnet - betrachtet
werden. Die Oxide der blau unterlegten Elemente können bis auf
wenige Ausnahmen nach Zusammensetzung behandelt werden, s. Kap. 3.
Die schwarz dargestellten
Elemente bilden Oxide, die dem Bereich der Molekülchemie zugeordnet
werden können und die unter Normalbedingungen Gase oder Flüssigkeiten sind, so daß ihre
Strukturchemie hier nur von untergeordneter Bedeutung ist.
In Kap. 4 werden ausgewählte
nichtstöchiometrische Oxide (kristallographische Scherungen usw.)
behandelt. In Kap. 5 werden
Strukturfelddiagramme am Beispiel von Verbindungen der Zusammensetzung AB2O4
diskutiert.
Das komplette Inhaltsverzeichnis gibt es auf Vorlage 0.
Klassifizierung
Eine chemische Klassifizierung der Oxide kann z.B. nach den
Säure-Base-Eigenschaften erfolgen. Hiernach lassen sich unterscheiden:
- saure Oxide = die meisten Nichtmetalloxide (z.B. CO2, P4O10, SO3)
- basische Oxide = Oxide elektropositiver Elemente (z.B. Na2O, Tl2O, La2O3)
- amphotere Oxide = Oxide weniger elektropositiver Elemente (z.B. BeO, Al2O3)
- neutrale Oxide = keine Reaktion mit Wasser (z.B. CO, NO)
Bezüglich dieser Eigenschaften ergeben sich im PSE folgende Tendenzen:
- In einer Periode nimmt der saure Charakter zu:
Na2O < MgO < Al2O3 < SiO2 < P4O10 < SO3
basisch - amphot. - sauer - stark sauer
- Für ein Element steigt die Acidität mit steigender Oxidationszahl:
MnO < Mn2O3 < MnO2 < Mn2O7
- In den Hauptgruppen steigt die Basizität mit steigender Ordnungszahl:
BeO < MgO < CaO < SrO < BaO
Auch bezüglich vieler physikalischer Eigenschaften (z.B. der Schmelzpunkte)
zeigen sich entsprechende regelmäßige Gänge im PSE.
Die strukturchemische Klassifizierung der Oxide
kann nach Bauelementen/Strukturmerkmalen bzw. nach Bindungscharakter
vorgenommen werden.
Auf der Basis der Verknüpfung der MOn-Polyeder betrachtet bilden Oxide eine große Vielfalt an Strukturelementen:
- molekulare Einheiten (z.B RuO4, Sb4O6)
- Ketten (z.B. HgO, SeO2, CrO3)
- Schichten (MoO3, PbO, Re2O7)
- Netzwerke (SiO2, typische Salze)
Wie für alle chemischen Verbindungen hängt die Art der Strukturen und der Bindungsverhältnisse,
die im Festkörper ausgebildet werden, zunächst von
der Summe der Elektronegativitäten der Bindungspartner und der
Differenz der Elektronegativitäten ab
(s. auch Kap. 1.2. der Vorlesung
Anorganische Strukturchemie.
Nach Fluor ist Sauerstoff mit einer EN von 3.5 das am zweitstärksten
elektronegative Element, d.h. die Summe der EN ist in
Sauerstoffverbindugen (mit der Ausnahme der metallreichen Suboxide) immer groß, die Differenz kann
aber entweder klein (Nichtmetalle = kovalente Oxide mit gerichteten
Bindungen) oder groß (Metalle = Ionenkristalle mit ungerichteten Bindungen)
sein.
Demnach kann man zwei wesentliche Klassen von Oxiden nach ihrem
Bindungscharakter unterscheiden, wobei die Übergänge zwischen beiden
selbstverständlich fließend sind.
- überwiegend kovalente Oxide
Bei diesern Verbindungen bestimmt die Hybridisierung des Sauerstoffs
die Stereochemie am O:
- sp = linear (z.B. [Cl5RuIV-O-RuCl5]4-) (2 Doppelbindungen)
- sp2 = gewinkelt, ideal 120 (z.B. O3) (1 Doppelbindung)
- sp3 = gewinkelt, ideal 109 (z.B. H3O+) (0 Doppelbindungen)
Das Auftreten der verschiedenen Strukturtypen ist damit abhängig von der Stöchiometrie
und der Ausbildung von pi-pi-Doppelbindungen zum Sauerstoff.
Die relativen Atomgrößen sind nur von untergeordneter Bedeutung.
- überwiegend ionische Oxide
bestehen aus O2--Ionen und Metall-Kationen. Hier sind wie bei allen Salzen
die Ionenladung und die Größenverhältnisse die primär strukturbestimmenden Faktoren.
Konkret heißt das für Sauerstoff:
Der Ionenradius des Oxidions O2 beträgt bei einer Koordinationszahl (CN) von 6 ca. 140 pm
und ist damit größer als die typischen Kationenradien. Daher findet man sehr häufig
dicht gepackte Oxid-Teilgitter mit gefüllten Oktaeder- und Tetraederlücken.
In diesem Zusammenhang ist damit die Betrachtung dichtester
Packungen extrem hilfreich.
- Oxide mit metallischen Bindungsanteilen
werden nur mit den schweren Alkalimetalle und einigen Übergangsmetallen
gebildet (Suboxide). In diesen Verbindungen liegt - räumlich
voneinander getrennt - ionischer und metallischer Bindungscharakter vor.