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Vorlesung: Silicatchemie

1. Einleitung

1.2. Chemische Bindung, Strukturkonzepte


1.2.1. Die Natur der Si-O-Bindung

Der Vergleich der Verbindungsbildung von Silicium und seinem leichteren Homolgen, dem Kohlenstoff, mit Nichtmetallen zeigt, dass aufgrund der Bindungsenergien beim Kohlenstoff C-C bzw. C-H-Bindungen, beim Silicium dagegen die Si-O- Bindungen bevorzugt sind.

In der Strukturen der Silicate treten als Koordinationszahlen von Silicium meist 4, weniger häufig auch 6 auf. Dominierend ist die tetraedrische Koordinationssphäre, die einem sp3-Hybrid (mit Anteilen von π-π-Bindungen zwischen O-p und Si-p sowie sehr begrenzt auch Si-d-Zuständen, s.u.) entspricht. Charakteristisch für diese Koordinationszahl ist ein Abstand dSi-O von 162 pm. Seltener findet sich auch die Koordinationszahl 6, d.h. oktaederische Umgebung (Hypervalenz wie bei SF6) mit einem typischen Abstand dSi-O von 177 pm (Druck-Abstands-Paradoxon!). Diese Koordination wird bei Si-O-Hochdruckphasen, bei Si-Phosphat, einigen Si-Komplexen (z.B. mit Brenzcatechin als Ligand) und in SiF62- (d.h. mit stark elektronegativen Liganden) beobachtet.
Aufgrund der generellen Strukturprinzipien, der Verknüpfung von SiO4-Tetraedern über unterschiedlich viele Ecken, ist Sauerstoff in Silicaten entweder von zwei (brückend) oder nur von einem (endständig/terminal) Si-Atom koordiniert.

Für den Bindungscharakter der Si-O-Bindung (ionische Formulierung entsprechend Si4+ und O2- versus kovalente Formulierung) ergibt sich nach Pauling z.B. für Quarz ein Ionencharakter 1-e1/4(χAB) von 15 %.
Für den Si-O-Abstand in Silicaten ergibt sich

Diese kurzen Bindungsabstände dSi-O sind nur durch erheblicher Doppelbindungsanteile zu erklären (s.u.).

Innerhalb der Silicate variieren die Si-O-Abstände zwar nicht sehr stark, es gibt jedoch eindeutige Tendenzen: Bereits Gibbs und Brown (1969) haben eine Korrelation zwischen der Koordinationszahl von Sauerstoff (berechnet mit Si und allen weiteren A-Kationen) und der Si-O-Bindungslänge festgestellt, die in Abb. 1.2.1 dargestellt ist: Danach steigt der Si-O-Abstand mit der Koordinationszahl von Sauerstoff, in SiO2 ist der Abstand kürzer als z.B. in Orthosilicaten, wo die O-Atome hohe Gesamt-Koordinationszahlen aufweisen.
Abb. 1.2.1. Korrelation des mittleren Si-O-Abstands mit der Gesamtkoordinationszahl von Sauerstoff (nach Brown und Gibbs) SVG
Betrachtet man lediglich die Koordination von O gegen Si, wird ebenfalls eine klare Tendenz deutlich: Terminale (CNO=1) Si-O-Abstände sind stets etwas kürzer als Abstände zu verbrückenden Sauerstoffatomen.
Der beobachtete Bindungswinkel am Sauerstoff liegt im Durchschnitt bei 140 o, wobei der Bereich zwischen ca. 110 und 180o schwankt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die zumeist röntgenographisch ermittelten Si-O-Si-Winkel in nicht wenigen Fällen durch die speziellen Lagen der Sauerstoffatome verfälscht sind! Als Erklärung für diese gegenüber dem Tetraederwinkel deutlich aufgeweiteten O-Si-O-Winkel kann wiederum der Doppelbindungsanteil der Si-O-Bindung herangezogen werden.

Die Diskussion der elektronischen Struktur von Oxido-Orthoanionen (Orthosilicat [SiO4]4- aber auch Phosphat, Sulfat, Perchlorat usw.) auf der Basis aktueller theoretischer Rechnungen ergibt inzwischen ein einigermassen sicheres Bild, obwohl abhängig vom Rechenverfahren weiter über die Anteile von π-π-Bindungen zwischen O-p und Si-p bzw. Si-d-Zuständen diskutiert wird (der sich auch auf die 'erlaubten' Schreibweisen für die Valenzstrichformeln der Anionen auswirkt). Hierzu ist in Abbildung 1.2.2. schematisch das MO-Schema des Orthosilicat-Ions wiedergegeben.
Abb. 1.2.2. Schematisches MO-Schema des Orthosilicat-Ions SVG
Die beteiligten Atomorbitale des zentralen Si-Atoms sind Si-s (a1, in rot) und Si-p (t2, in blau) Zustände, die mit vier Elektronen besetzt sind. Die d-Orbitale bilden im Tetraeder einen e (dz2- und dx2-y2-Orbitale, in grün) und einen (t2, in blau) Orbitalsatz. Die s-Orbitale der vier Sauerstoff-Liganden kombinieren zu einem totalsymmetrischen a1 und einem t2-Satz. Diese Orbitale liegen energetisch so tief, dass sie nicht an der Bindung beteiligt sind (hohe s-p-Separation bei O). Die 12 p-Orbitale der vier O-Atome, die mit 20 Elektronen (4+4 = 16 + 4 für die Ladung) besetzt sind, bilden SALCs der irreduziblen Darstellungen a1, e, t1 und 2 x t2.
Die daraus entstehenden Molekülorbitale des Anions sind:

Selbstverständlich kann ein solches lokales Molekülorbital-Modell (alleine schon wegen der erheblichen Ladung, praktisch nicht zu berechnen!) die Bindungsverhältnisse in einem Festkörper nicht korrekt wiedergeben.

Die Ergebnisse eine DFT-Bandstruktur-Berechnung (vollrelativitsiche FP-LAPW-Methode) von BaSiO3 (ein synthetisches Kettensilicat) zeigen die erheblichen Si-d-Anteile (grau unterlegt) unterhalb des Fermi-Niveaus jedoch ebenfalls sehr deutlich (s. tDOS (oben) sowie pDOS von Si und O (unten) in Abbildung 1.2.3.).

Abb. 1.2.3. Totale und partielle Zustandsdichten in BaSiO3 SVG
Die Abbildung der Elektronendichte aus dieser Rechnung (Abb. 1.2.4.) zeigt, dass der bindungskritische Punkt (Sattelpunkt der Elektronendichte) sehr nahe am Silicium liegt und der Wert für die Elektronendichte an dieser Stelle nur sehr gering ist, der ionische Bindungsanteil ist nach dieser Rechnung sehr deutlich.
Abb. 1.2.4. Valenzelektronendichte in BaSiO3

1.2.2. Kationen außer Si, Wasser

Die wichtigsten Kationen in Silicaten und deren übliche Koordinationszahlen (CN) gegenüber Sauerstoff sind in Tabelle 1.2.1 zusammengestellt.
Kation CN gegen O
Be2+ 4
Li+ 4, (6)
Al3+ 4,6
Mg2+ (4), 6
Fe2+, Ti4+ 6
Na+, Ca2+ 6, (8)
K+ 6-12
Tab. 1.2.1. Kationen in Silicaten

Danach können die Kationen von Be2+, Li+ und Al3+ Silicium auf den Tetraederplätzen ersetzen (sog. isomorpher Ersatz). Aluminium kommt eine doppelte Rolle zu, es fungiert entweder als 'echtes Kation' (Aluminium-Silicat) oder es ersetzt Silicium auf seinen Plätzen (Alumo-Silicat). Diese Doppelrolle von Al erschwert die Interpretation von Formeln der entsprechenden Si/Al-Verbindungen. Die Kationen üben auf die Si-O-Bindung einen induktiven Effekt aus, d.h. die Kationen verstärken als Elektronen-Donatoren den Si-O-Doppelbindungscharakter. Dadurch werden die Brückenbindungen länger (Mittelwert: 163 pm), endständige (terminale) Si-O-Si-Bindungen werden dagegen - entsprechend einem stärkerer Doppelbindungsanteil - kürzer (Mittelwert: 158 pm). Die folgende empirische Regel beschreibt die entsprechende Bindungslängenvariation:
dSi-O = 157.9 + 0.15 * CNO

Wasser ist in Silicaten fast immer als echtes Kristallwasser eingebaut. Es sind nur wenige Hydroxy-Silicate mit [SiOx(OH)y]-Tetraedern bekannt. Auch diese Tatsache erleichtert das Verständnis der Struktuchemie (hydratisierter) Silicate sehr erheblich.

1.2.3. Strukturkonzepte, Pauling-Regeln

Aufgrund des relativ hohen ionischen Bindungsanteils können die Strukturen der Silicate Ax[SiyOz] auch häufig als Ionenkristalle aus O2--Anionen und Si4+- und An+-Kationen beschrieben werden (Konzept der Kondensation von Kationenkoordinationspolyedern, KKPs). In diesem Fall gelten die Pauling-Regeln für Ionenkristalle, die vereinfacht die Minimierung der potentiellen Energie in Ionenkristallen wiedergeben. Die Pauling-Regeln gelten für Silicate fast immer. (s. zu den Pauling-Regeln auch Kap. 4.2. der Vorlesung Anorganische Strukturchemie).
  1. Radienverhältnisregel: Die Koordinationszahl wird in Ionenkristalle vom Verhältnis der Radien der beteiligten Ionen bestimmt. Die Abstände selber folgen der Summe der Ionenradien. Genauer: Nach Einführung von Polyedern um die Kationen (Festlegung der Koordinationszahl) und bei Zuordnung von Ionenradien zu den einzelnen Teilchen wird die Koordinationszahl (CN) vom Radienverhältnis, die Atomabstände vom Wert der Ionenradien bestimmt.

    Um jedes Kation wird ein Koordinationspolyeder gebildet. Der Abstand zwischen Kation und Anion ist durch die Summe der Ionenradien bestimmt, die Koordinationszahl dagegen vom Radienverhältnis.

    Beispiele: Bekanntestes Beispiel ist die Strukturtypenfolge (ZnS, NaCl, CsCl) bei einfachen Salzen. Bei Silicaten ergibt sich aufgrund der Ionenradien von Si4+ und O2- unmittelbar die Koordinationszahl 4 für Silicium gegen Sauerstoff. Die Werte für andere Kationen entsprechen den in der Tabelle 1.2.1 oben angegebenen und sind graphisch in Abb. 1.2.5. dargestellt.
    Abb. 1.2.5. Radienverhätnis-Regel und typische Kationenkoordinationen SVG
    Sind in einer Verbindung unterschiedliche Kationen vorhanden, dann können eventuell nicht alle ideale Verhältnisse finden. In diesem Fall weichen die Kationen mit der geringsten Ladung und dem größten Radius auf andere Koordinationszahlen aus. Beispielsweise liegt Natrium im Sodalith Na8[Si6Al6O24]Cl2 nicht wie sonst mit der Koordinationszahl 6, sondern nur mit einer Koordinationszahl von 4 vor, während Si (höhere Ladung!) in CN 4 verbleibt.

  2. Elektrostatische Valenzsummenregel: Für jedes Kation i mit der Ladung Z und der Koordinationszahl CN ergibt sich die 'elektrostatische Bindungsstärke' Si zu:
    Si=(Z e)/CN
    Ein stabiles Ionengitter liegt dann vor, wenn die Ladung X e der Anionen der Summe der Bindungsstärken der koordinierenden Kationen entspricht:
    X = Σi si
    Die Summation erfolgt über die i-Kationen um das jeweilige Anion.

    Oder als Text:
    Die Valenz eines Anions in einer stabilen ionischen Struktur versucht die Stärke der elektrostatischen Bindungen der umgebenden Kationen zu kompensieren (und umgekehrt).

    Beispiele:

    1. Perowskit CaTiO3:
      Für die einzelen Kationen gilt:
      • Ca: Z = +2; CN=12, d.h. Z/CN = 1/6
      • Ti: Z = +4; CN=6 d.h. Z/CN = 2/3
      Da Sauerstoff (Z = -2) von zwei Ti- und vier Ca-Atomen koordinert ist, gilt S = 4 * 1/6 + 2 * 2/3 = 2. D.h. also, dass die Ladung des O2- genau ausgeglichen wird.
    2. Spinell: MgAl2O4
      Für die Kationen gilt wieder:
      • Mg: Z = +2; CN=4, d.h. Z/CN = 1/2
      • Al: Z = +3; CN=6, d.h. Z/CN = 1/2
      Da Sauerstoff von einem Mg- und drei Aluminium-Ionen koordiniert ist, wird auch hier die Ladung von O2- ausgeglichen ( (1+3) * 1/2 = 2)
    3. Granate (A32+B23+[SiO4]3):
      Aufgrund der Koordinationszahlen ergeben für die Kationen (am Beispiel Grossular):
      • Ca (A): Z = +2; CN=8, d.h. Z/CN = 1/4
      • Al (B): Z = +3; CN=6, d.h. Z/CN = 1/2
      • Si: Z = +4; CN=4, d.h. Z/CN = 1/1
      Da die Oxid-Ionen von zwei Ca-, einem Al- und einem Si-Kation umgeben ist folgt für diese Anionen:
      2 * 1/4 + 1 * 1/2 + 1 * 1 = 2 (q.e.d.)
    4. Bei den Silicaten (weitere Rechnungen folgen bei einigen Strukturen) gibt es maximale Abweichungen von der elektrostatischen Valenzregel von nur 1/6. Diese Regel kann bei Silicaten für die Bestimmung der Al-Positionen in Alumosilicaten herangezogen werden. Ferner dient sie zur Unterscheidung von O2-, OH- und H2O-Positionen sowie zur Bestimmung der Oxidationszustände von Ionen (z.B. Fe2+/3+).
  3. 3. Pauling-Regel: Bei Salzen mit mehreren Kationen werden diejenigen mit hoher Ladung möglichst weit voneinander weg eingebaut, so dass eine möglichst gute Abschirmung der Kationen voneinander möglich wird. D.h., dass die Kationen-Koordinationspolyeder möglichst wenige Polyederelemente gemeinsam haben sollten.

    Oder als Text:
    Teilung von Kanten und besonders von Flächen zwischen Koordinationspolyedern reduziert die Stabilität einer Struktur. Dieser Effekt ist besonders ausgeprägt für Kationen hoher Valenz und geringer Koordinationszahl.

    Beispiele:

    1. Bei Silicaten sind keine Beispiele für gemeinsame Flächen zwischen Tetraedern und keine Beispiele für gemeinsame Kanten zwischen Tetraedern bekannt. Die SiO4-Tetraeder sind stets entweder isoliert oder über gemeinsame Ecken miteinander verknüpft.
    2. Der Vergleich der Reihe Silicate [SiO4]4- -> Phosphate [PO4]3- -> Sulfate [SO4]2- zeigt, dass wegen der in dieser Reihe steigenden Ladung des Kations Phosphate meist nur mit wenigen gemeinsamen Ecken auftreten (häufig isoliert, als Dimere oder maximal Ketten) und dass bei Sulfaten keinerlei Tendenz zur Kondensation der [SO4]-Tetraeder zu beobachten ist.
    Als Erweiterung der 3. Pauling-Regel gilt, dass mehrere Kationen hoher Ladung räumlich weit voneinander getrennt sein sollten, d.h. dass diese möglichst wenige Polyederelemente gemeinsam haben sollten.

    Oder im Text
    In einer Struktur mit mehreren Kationen weichen Kationen mit hohen Ladungen einem Teilen von Bauelementen aus.

    Die Konsequenz für Alumosilicate ist die sogenannte Löwenstein-Regel, nach der niemals zwei Aluminium-Atome nebeneinander in den Tetraederverband eingebaut sind.

  4. 'Sparsamkeitsregel': Insgesamt werden möglichst wenige Koordinationen realisiert.

    Im Text:
    Die Zahl verschiedener Bauelemente in einer Kristallstruktur ist klein.

Allgemein ergibt sich, dass 3-dimensionale Verbände stabiler sind als zweidimensionale und diese wiederum stabiler als isolierte Baugruppen.

Wie bei anderen Ionenkristallen auch ist häufig statt des Konzeptes der KKPs auch eine Betrachtung als dichten Packungen der Anionen (Oxid-Ionen), in der die Si- und A-Kationen die Tetraeder- und Oktaederlücken besetzen, sehr nützlich. Dies gilt insbesondere für Verbindungen wie z.B. die Orthosilicate, bei der die kovalente Beschreibung über unterschiedlich kondensierte SiO4-Tetraeder nicht greift.

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